22:30 Uhr. Der Riese im Herzen der Stadt schläft bereits – die Glocken des gigantischen Kirchturms läuten erst morgen früh wieder. Ich mache mich fertig für einen Nachtspaziergang durch die Stadt und nehme euch gerne mit. Warum ich ausgerechtet nachts spazieren gehe? Auf meiner Entspannungsskala kommen Spaziergänge bei Nacht direkt nach Spaziergängen im Wald. Keine Spur vom hektischen Alltag voller Aufgaben, Termine und Diskussion.
Denn nachts steht die Zeit scheinbar still – oder vergeht zumindest viel langsamer als am Tage. Einfach gehen und den Gedanken ihren Lauf lassen. Deswegen ziehe ich gerne auch zu später Stunde noch los. Sei es, um den Kopf frei zu kriegen oder um besser über etwas Bestimmtes nachdenken zu können. Außerdem ist Hildesheim eine Stadt, die immer dazu einlädt, einfach mal umher zu spazieren. Sei es zwischen den Bäumen, am Wasser oder unter den Sternen durch mittelalterlich anmutende Straßen.
Marktplatz
Ich beginne auf dem historischen Markplatz. Dort setze ich mich auf die Treppe des Wedekindhauses, ein Fachwerkhaus aus der Renaissance, dessen Fassade mit bunten Malereien und Schnitzereien geschmückt ist. Von hier aus überblicke ich den gesamten Marktplatz, die Fachwerkbauten ringsum und den Brunnen vor dem Rathaus. Das markanteste Gebäude ist das Knochenhaueramtshaus. Es ist im 16. Jahrhundert erbaut worden und wurde von der Fleischergilde (Knochenhauer) verwendet, daher der Name. Das Besondere an dem Gebäude sind die kunstvoll gestaltete Fassade und die Architektur: jedes Stockwerk ragt ein Stückchen weiter heraus. Links daneben ist das Bäckeramtshaus, mit dem Café Engelke, gekleidet in eine Fachwerkfassade aus roten Ziegeln. Viertel vor elf, der Nachhimmel ist dunkel, doch Fenster, Laternen und das blaue Licht des Brunnens erleuchten den Platz. Hier und da sitzen noch kleine Menschengrüppchen, Geplauder und Gelächter. Im Café Engelke wird gerade aufgeräumt. Das Klirren von Geschirr hallt über den Platz, ein Kellner baut gerade Tische und Stühle ab.
Andreasplatz
Ich überquere den „Hohen Weg“, Hildesheims Einkaufsstraße. Tagsüber wimmelt es hier von einkaufslustigen Menschen – nachts ist es still. Ein händchenhaltendes Pärchen schlendert gerade die Straße hinunter. Beim umgestülpten Zuckerhut angekommen, schießt ein summender E-Roller um die Ecke und verschwindet schnell hinter der nächsten. Am Tag duftet es hier herrlich nach Kaffee und gerösteten Bohnen. Denn in diesem Häuschen und im Gebäude dahinter verbirgt sich das „Kleine Röstwerk“. Dort soll es den besten Tee und Kaffee der Stadt geben. An dieser Stelle komme ich auch zum Andreasplatz, auf dem die St. Andreas-Kirche steht, mit dem höchsten Kirchturm Niedersachsens.
Der gewaltige Steinkoloss ragt 114,5 Meter in die Höhe und ist nachts nicht weniger eindrucksvoll als am Tage. Ich setze mich neben das Kleine Röstwerk auf den noch sonnengewärmten Steinboden und versuche ein Foto von der riesigen Kirche zu schießen. Es ist nämlich gar nicht so einfach, die gesamte Höhe des Turmes aufs Bild zu bekommen. Danach geht es weiter.
Der Hildesheimer Dom
Auf dem Domhof angekommen, bieten die Sitzbänke unter den Bäumen ein schönes Plätzchen zum Verweilen. Von hier aus lässt sich in Ruhe die gesamte Nordseite des Doms betrachten. Das Bauwerk ist von verschiedenen Baustilen geprägt, das ist an diesem Gebäude gut erkennbar. Die dicken, burgartigen Mauern der Westseite (rechts) mit ihren kleinen Fenstern deuten auf eine romanische Bauweise. Der dahinterliegende Teil (links) mit seinen großen Fensterflächen, verziert mit geometrischen Formen und spitzzulaufenden Bögen, deutet auf eine gotische (spätmittelalterliche) Bauweise hin. Ursprünglich wurde der Dom 872 errichtet. Vor 1149 Jahren also!
Hinterer Brühl
Ich befinde mich nun auf dem „Hinteren Brühl“. Eine schmale kopfsteingepflasterte Straße mit gemütlich aneinander lehnenden Fachwerkhäuschen – einige davon gerade, andere schief. Fensterläden, knorrige Holztüren, kleine Erker und Gauben blicken auf die jeweils gegenüberliegenden Häuser. Es erinnert mich an die „Winkelgasse“ aus Harry Potter – nur ohne Schaufenster, Geschäfte und Trubel. Als sich mir langsam der Blick auf die St. Godehard-Kirche am Ende der Straße eröffnet, bleibe ich neben einer Hauswand mit kleinen Fenstern stehen und versuche die Ruhe dieser Straße einzufangen. Während ich durch die Kamera blicke, spüre ich etwas an meinem Bein, das mich erstmal zusammenzucken lässt. „Mein Gott, hast du mich aber erschrocken…“ Eine Katze. Ich bin ihr schon öfter hier begegnet. Normalerweise kündigt sie sich miauend an. Ich gehe in die Hocke, kraule sie erstmal hinter den Ohren und genieße das Schnurren. Sie zieht weiter und auch ich setze meinen Weg fort.
Kahlenberger Graben
Auf der Kreuzung zwischen dem Kahlenberger Graben und dem Ehrlicher Park ist die Hildesheimer Natur bei Nacht besonders gut zu hören. Im Park gibt es nämlich drei Teiche und wildere, waldähnliche Abschnitte. Entenquaken und ein Froschorchester durchbrechen aus der Ferne die Stille der Nacht. Ich biege in die die gleichnamige Straße ab – „Kahlenberger Graben“ – und entdecke direkt an der Kreuzung einen der offenen Bücherschränke, die an verschiedenen Orten der Stadt zu finden sind. Ich selbst kenne bereits drei Standorte. Wer möchte, kann hier alte Bücher ablegen und andere mitnehmen. Ich schlendere gemütlich auf dem Schotterweg am Graben entlang. Früher war der Kahlenberger Graben ein Wehrgraben, heute ist er mit Wasser gefüllt. Auf beiden Seiten führen Straßen und Wege entlang. Während ich den knirschenden Steinen unter meinen Schuhsohlen lausche, betrachte ich die Bäume auf beiden Seiten des Grabens. Im Licht der Straßenlaternen erkenne ich Eichen, Buchen, Ahorn und die Birken würde ich auch im Dunkeln erkennen. Auf der gegenüberliegenden Seite ragt eine große Trauerweide still über das Wasser. Als hätten sich bewusst sämtliche Baumsorten an diesem Wassergraben versammelt. Eine warme Brise kommt mir entgegen, die Bäume rascheln zufrieden. Sorglos setze ich einen Fuß vor den anderen und halte Ausschau nach interessanten Dingen und neuen Eindrücken – bis mir plötzlich eine Lücke im Gebüsch auffällt, die meine Neugier weckt: Ein Abstieg zum Ufer? Ich taste mich langsam mit den Füßen voran, und steige fünf Holzstufen hinunter bis direkt an das Ufer.
Für ein Foto ist es hier viel zu dunkel. Ich bleibe trotzdem ein wenig und lausche. In der Nähe und Ferne zirpen die Grillen. Zwischendurch plätschert irgendetwas im dunklen Wasser, auf dem sich Laternen, Fenster, beleuchtete Fassaden und Bäume auf der anderen Seite des Grabens spiegelten. Wer geduldig ist und lange genug auf die hellen Spiegelungen im Wasser blickt, kann hier ein kleines Nachtwesen beobachten. Kleine Schatten, die blitzschnell knapp über der Wasseroberfläche vorbei flattern – Fledermäuse. Manchmal begegnen sich zwei und tänzeln kurz herum, bevor sie wieder im Dunkeln verschwinden. Zwei leise Glockenschläge reißen mich aus meinen Gedanken. Das muss die St. Godehard-Kirche sein, die sogar in der Nacht die Viertelstunden andeutet. 23:30. Weiter geht’s.
Ein alter Bekannter
Am Ende des Grabens und dessen Grünanlage angekommen, steht ein alter Bekannter auf einem Steinsockel. Als ich ihn das erste Mal hier antraf, freute ich mich über diesen Zufall. Hier befindet sich eine Statue, die Graf Reinald von Dassel darstellen soll. Natürlich kenne ich ihn nicht persönlich. Aber während meines Bachelorstudiums in Gießen (Hessen) belegte ich ein Geschichtsseminar, das sich um diese Person drehte. Er war der Kanzler von Kaiser Friedrich Barbarossa (12. Jahrhundert). Dieser wiederum residierte in verschiedenen Städten des römisch-deutschen Reiches, darunter das Städtchen Gelnhausen (Hessen), wo ich mein Abitur ablegte. Ich freute mich über dieses kleine Detail, das mich mit meiner Heimat verband. Vielleicht findet auch ihr in dieser Stadt etwas, das euch mit eurer Heimat verbindet, wenn ihr die Augen offenhaltet.
St. Michaeliskirche
Ich gehe die Burgstraße hinauf. Die Straße ist leer, alles schläft. Unter der Woche geht die Stadt nun mal früher ins Bett. Bei dem Gedanken muss auch ich erstmal gähnen. Oben angekommen, mache ich eine enttäuschende Feststellung: Ich dachte, vor zwölf Uhr würden auch hier noch die großen Lichter die St. Michaeliskirche anleuchten. Dem war nicht so. Sie steht zwar immer noch erhaben auf dem Hügel, mit ihren dicken Mauern und großen Türmen – nur eben im Dunkeln. Ich setze mich auf eine Bank am Fuße des Hügels und versuche, trotzdem ein Bild davon zu machen.
Die St. Michaeliskirche soll 1010 bis 1022 erbaut worden sein. 1000 Jahre steht sie schon auf diesem Hügel. Natürlich wurden viele Kirchen im Laufe der Zeit zerstört, wiederaufgebaut und erneuert. Aber die Tatsache, dass an einer bestimmen Stelle seit 1000 Jahren das gleiche Gebäude steht, erstaunt mich immer wieder. Und in Hildesheim gibt es ja etliche Kirche, die so alt sind. Stille Zeitzeugen der Menschheitsgeschichte. Bevor ich mich auf den Heimweg mache, gehe ich die weißen Stufen hinauf, die zum Platz vor der Kirche führen. Auch tagsüber setze ich mich gerne hier auf die Wiese. Die Kirche hat etwas von einer Burg und erinnert mich an eine kleinere Kirche in meinem Heimatstädtchen. Wahrscheinlich finde ich sie deswegen am schönsten. Es dauert nicht lange, bis ich feststelle, dass es sogar gut ist, dass die Kirche und der Hügel, auf dem sie steht, gerade nicht beleuchtet werden. Der Nachthimmel wird nicht zu sehr vom Licht verschmutzt, sodass ich die Sterne am tiefschwarzen Firmament betrachten kann.
Ich kann nur allen empfehlen, einfach mal spontan durch die Stadt zu schlendern. Auf unserem Blog findest du übrigens noch weitere schöne Ausflugsziele und Spaziergangsrouten!